Der erste Gastbeitrag auf Have You Seen Germany. Wer meinen Newsletter abonniert hat, weiß es schon: In Zukunft wird es hier immer wieder Stories und Reiseberichte von ausgewählten Gastautoren geben.
Los geht es mit einem Text von Tanja Riel aus Berlin. Sie hat sich als absoluter Karnevalsneuling auf eine Sitzung gewagt. Und das nicht in einer der Karnevalshochburgen Köln, Düsseldorf oder Mainz. Nein, dort, wo man das jecke Treiben nicht unbedingt vermutet: in Ostwestfalen.
Hier Tanjas Bericht vom Karneval in Verl:
Zehn. Neun. Acht. Sieben…Bis zur offiziellen Eröffnung des bunten Karnevalstreibens um 19:11 Uhr sind es nur noch wenige Sekunden: „Helau! Verl! Helau!“
Die Kleinstadt Verl im Kreis Gütersloh ist nicht gerade als Hochburg des närrischen Treibens bekannt, aber die Sitzung und ihr „mit Höhepunkten gespicktes Programm können im regionalen Vergleich durchaus bestehen“. Verspricht zumindest die Westfälische Zeitung. Na, dann mal rein ins Vergnügen.
Inkognito im Karneval?
Am Karnevalssamstag betrete ich mit Freunden aus Verl die mit 320 Plätzen ausgebuchte Schützenhalle und bin – irritiert. Als Wahl-Berlinerin liebe ich Großveranstaltungen und mag deren Anonymität. Aber hier? Unerkannt untertauchen in der Masse? Undenkbar. Inkognito Spaß haben? Unmöglich. Alles ist klein und überschaubar. Hier kennt man sich.
Ich schaue mich um. Am Tisch hinter uns sitzen „echte“ Mexikaner mit überdimensionierten Sombreros und bunten Decken auf den Schultern. Ein paar Reihen weiter hüpft eine Gruppe grüner Blumenwiesen im Takt. Und schräg gegenüber schunkelt ein Dutzend junger Mädchen, die pinkfarbene Tüllröcke zu pinken Pagenköpfen tragen. Um die schwarzen Oberkörper ist lässig ein dicker, pinker Schal geschwungen. Später entdecke ich, dass der pinke Schal der Ladies einen Kopf mit Schnabel besitzt: Das Kostüm entpuppt sich als Flamingo.
Mein Blick schweift vom Publikum zur Bühne. Dort summt Biene Maja und ein Schwein quiekt. Was soll das nur bedeuten? Als die Frage „Machen Sie Menschen glücklich?“ gestellt wird, dämmert es mir: Das „Schweinderl“ wurde gerade von Robert Lembke mit einem Fünfer gefüttert und Biene Maja ist der Promigast in Lembkes Quizsendung, dem heiteren Berufe-Raten.
Nicht nur bei „Was bin ich“, sondern auch bei der nachfolgenden Herzblatt-Parodie werde ich nostalgisch. Ach ja, die gute alte Zeit, meine Jugend, die 80er. Als Herzblatt wählt der Picker Kandidatin Nummer Zwei: die wunderbar authentische, vollbusige „Cindy von der Bahn“. Ihr imposanter Vorbau wird sich zu späterer Stunde zur großen Erheiterung in drei Teilen von der Brust erheben. Überhaupt sind Männer in Frauenkleider ein beliebtes Kostüm – und ein Männerballett immer ein Garant für einen Lacherfolg.
Dass man das Publikum auch auf anderem Wege erheitern kann, beweist die Märchen-Parodie „Flaschenputtel“. Die jugendlichen Darsteller finden sich und ihren Sketch so albern, dass sie selbst in schallendes Gelächter ausbrechen. Und Lachen steckt ja bekanntlich an!
Preise wie in den 80ern
Flaschenputtel macht Durst. Zum Glück erinnern mich auch die Getränkepreise an meine Jugend. Ein Bier für 1,80 €, ein Shot, aufgefüllt mit einem Schuss Softdrink, für 2,50 €. Wird hier übrigens als „Cocktail“ verkauft. Mein Havanna-Cola schmeckt sonderlich rauchig – bis mir klar wird, dass das Mädchen hinter der Bar wohl Rum mit Whisky verwechselt hat.
Das Mischverhältnis der Drinks zeigt Wirkung: Die Stimmung unter den Ostwestfalen wird immer ausgelassener. Sie sind in derartiger Feierlaune, dass eine Polonaise kreuz und quer durch den Saal verläuft. Schnell kippe ich meinen Shot und reihe mich zwischen Mexikaner und Blumenwiese ein.
Nach drei Polonaise-Runden heißt es: Zurück auf die Plätze, the show must go on! Ich spitze die Ohren, Insidertalk: Die neuen Straßenlaternen der Stadt wurden angeblich absichtlich mitten auf den Radwegen installiert, um zu schnelle Radfahrer auszubremsen. Verstehe.
Beim letzten Programmpunkt, der Kostümverleihung, staune ich nicht schlecht, als ein Typ mit schwarzem Polohemd, Jeans und künstlicher Glatze den zweiten Platz erzielt. Wie soll ich das verstehen? Der Karnevalist imitiere Sascha, den stadtbekannten Grillbudenbesitzer, predigt mir ein Mönch – und zieht mich Richtung Bühne. Diese wird jetzt schnell zur Tanzfläche umgebaut. Und jetzt geht die Party ab!
Mein Fazit
Obwohl der Besuch in Verl mein erster Kontakt mit dem Phänomen „Karneval“ ist, bin ich überrascht, bei (fast) allen Liedern lauthals mitsingen zu können. Und wenn ich einen Song noch nie gehört habe, spielt das keine Rolle, denn die Refrains sind so eingängig, dass sich Text und Melodie bereits beim ersten Hören erschließen. „Olé-olé“ oder „la-la-la“ mit der Variante „scha-la-la“. Wie wunderbar vereint ist Deutschland beim Feiern: In München habe ich zu den gleichen Liedern auf dem Oktoberfest geschunkelt. Und für alle, die weder Oktoberfest-Mucke noch Karnevalssongs mögen, legt der DJ die beliebtesten Songs der 70er und 80-Jahre auf. So ist für jeden etwas dabei. So bringt man „Alle unter einen Hut“.
Als ich am Rosenmontag den Online-Bericht der lokalen Presse über die Karnevalsveranstaltung überfliege, komme ich mir gar nicht mehr fremd vor: In der Fotostrecke erkenne ich die meisten Gesichter des Abends wieder. Als ich sogar Fotos von mir entdecke, fühle mich irgendwie – zugehörig.
Die Autorin
Tanja ist leidenschaftliche Globetrotterin. Sie liebt es, mit Rucksack und Kamera die Welt zu erkunden und abseits der ausgetretenen Touristenpfade in fremde Kulturen einzutauchen. Wenn sie nicht gerade unterwegs ist, berät die 45-jährige Marketingexpertin Unternehmen und Existenzgründer und vermittelt ihr Wissen in Seminaren und Vorträgen, z. B. auf der Tourismusmesse ITB.
Kontakt zu Tanja gibt es unter expertana.de oder facebook.com/expertana.
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