„Logo, auf Kalifornien hätte ich Bock. Aber für meinen Blog kommen nur Ziele in Deutschland in Frage“, sage ich einem alten Freund, den ich in Hamburg besuche. Er hat mir gerade vorgeschlagen, für Have You Seen Germany doch mal etwas über Kalifornien zu schreiben. Oder über Brasilien.
„Selbst schuld, in zwei Stunden könntest du da sein“, zwinkert er – und ich verstehe nur Bahnhof. Ich rechne nach: Ziemlich genau 10.000 Kilometer Luftlinie sind es je nach Malibu oder Rio. Das schafft nicht mal eine Kreuzung aus der Concorde und Usain Bolt.
„Ostsee, Mann! Ostsee!“, versucht er energisch Licht ins Dunkel zu bringen.
Denn er spricht nicht vom Sonnenstaat an der US-Westküste. Auch nicht von der Copacabana: „Kalifornien“ und „Brasilien“ liegen tatsächlich in Deutschland. Beides sind Ortsteile der Gemeinde Schönberg in Schleswig-Holstein, rund 30 Kilometer nordöstlich von Kiel. Wieder etwas über Deutschland gelernt.
Weil die Story nicht nur kurios klingt, sondern man in Kalifornien und Brasilien angeblich auch gut surfen kann, mache ich mich tags darauf auf den Weg. Und, um zu erfahren, wie es zu den Namen kommt.
Einer alter Ohrwurm begleitet mich (und vielleicht auch dich beim Weiterlesen):
In einer Stunde Fahrtzeit bringt mich meine Mitfahrgelegenheit nach Kiel. Als ich am Hauptbahnhof aussteige, nehme ich laute Möwenschreie wahr, die ich als netten Marketing-Gag des gegenüberliegenden Einkaufszentrums interpretiere. Genau bis zu dem Moment, als mir eine der vermeintlichen Mp3-Möwen ihren ziemlich realen Darminhalt aus 15 Metern Höhe vor die Füße klatscht.
Ok, kein Audio-Branding, echte Möwen. Ich bin an der Ostsee.
Ich warte auf Bus 200, der stündlich vom Hauptbahnhof zur Haltestelle mit dem schönen Namen „Abzweigung Kalifornien“ fährt. Ich freue mich schon schelmisch, beim Einsteigen „einmal nach Kalifornien bitte“ zum Busfahrer sagen zu können – und mir dabei halbwegs lustig vorzukommen.
„Vier! Euro! Siebzig!“ raunzt er mit dem Charme der Diarrhoe-Möwe zurück. Für ihn ist eine Reise nach Kalifornien langweiliger Alltag.
Da in Kalifornien gerade High Season ist, wird es erst schwierig, eine Bleibe zu finden. Zum Glück hilft mir der Tourist-Service, der stilecht im „Käptn’s Gang“ residiert. Die junge Angestellte vermittelt mir das letzte Zimmer im Naturfreundehaus, einer Art Jugendherberge.
Dort ist Leben in der Bude, denn eine 60-köpfige Kinderfreizeit verbringt dort ihre Ferien. Ich fühle mich ein wenig in meine Schulzeit zurückversetzt.
„Wir sind zwar alle aus verschiedenen Bundesländern und alle ganz unterschiedlich alt. Aber wer bei 60 Kindern keine Freunde findet, ist selbst schuld.“ Weisheiten aus dem Mund einer Zwölfjährigen.
Also Freunde, Butter bei die Fische, warum heißt das jetzt Kalifornien hier.
Ulrike, die liebenswürdige Leiterin des Naturfreundehauses, empfiehlt mir, einmal im traditionellen Restaurant „Seestern“ nachzufragen. Der Inhaber sei eine Art Zeitzeuge.
Da Jan Meyer zugleich auch Chefkoch ist, muss ich warten, bis er allen Gästen höchstpersönlich ihren Fisch zubereitet hat. Der Magen knurrt, und da ich gerne zwei Fliegen mit einer Klappe schlage, verdrücke ich während des Wartens eine „Einsteigerplatte“: Dorsch-, Schollen- und Seelachsfilet ohne Gräten. Gute Entscheidung.
Dann kommt Meyer aus der Küche. Er wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht.
Moin!
Mit breitestem norddeutschen Dialekt erzählt er mir aus erster Hand, wie die Ostsee zu ihrem Kalifornien gekommen ist:
Seit acht Generationen lebt seine Familie vom Fischfang. Mitte des 18. Jahrhunderts fischte sein Ururururururgroßvater in einem Gewässer im Inland, rund 12 Kilometer vom Meer. Einen großen Teil seines Fangs musste er an ein Kloster abgeben, das die Gegend regierte. Das wurde ihm auf Dauer zu bunt und teuer, also zog er weiter gen Küste, in bis dahin unbewohntes Niemandsland direkt am Meer.
Und was macht man, wenn man an einen Strand zieht? Eine Hütte bauen. Womit? Mit allem, was herumliegt.
Fischer Meyer sammelte die Wrackteile, die er am Strand angespült fand. Auf einer Planke entdeckte er den Schriftzug „California“. Offensichtlich war hier ein Schiff aus dem entfernten Amerika an Land gespült worden. Er zimmerte die Planke an den Eingang seiner Bretterbude – und der Name des Fleckchens Ostseestrand war geboren. (Dass das Holz tatsächlich nicht aus Europa stammt, sei mittlerweile sogar wissenschaftlich nachgewiesen, beteuert Meyer.)
Ok, und warum liegt direkt neben Kalifornien heute auch noch Brasilien? Zumindest das muss doch ein Marketing-Gag sein.
Denkste.
Als ein Jahr nach der „Gründung“ Kaliforniens ein Nachbar das Stück Strand etwas weiter östlich vereinnahmte, dachte er sich: „Was der kann, kann ich schon lange.“ Und pinselte „Brasilia“ an seine Bretterbude. So entstehen Ortsnamen in Deutschland.
[Falls jemand aufklären kann, warum Wanne-Eickel „Wanne-Eickel“ heißt, bitte ich um einen Kommentar]
Bretterbude bleibt für mich das Stichwort. Denn entlang der Strandpromande flaniere ich am nächsten Morgen von Kalifornien nach Brasilien. Ich suche die Surfschule „Wassersport Brasilien“, die ich bei Google Maps ausgemacht habe.
Unterwegs muss ich drei Mal Rast machen. 1. Stopp: Butterkuchen. 2. Stopp: Fischfrikadelle. 3. Stopp: nochmal Fischfrikadelle.
Was Frittenschmieden fürs Ruhrgebiet sind, sind hier oben im Norden kleine Fischbüdchen. Sollte man nicht auslassen, denke ich mir. Support your local Fressbude.
Als ich – mehr als satt – in Brasilien ankomme, bin ich mir zunächst nicht sicher, ob es sich bei der gleichnamigen Surfschule um einen kommerziellen Verleih für Wassersportgeräte oder einen Jugendtreffpunkt handelt. Es wird gesurft – aber auch viel abgehangen. Die Atmosphäre gefällt mir.
Ich leihe mir ein Brett und probiere mich nach einer kurzen Anleitung im Stand-Up-Paddling. Oder besser: Knee-Down-Paddling, so hoch sind die Wellen. Leider sind allzu hohe Wellen auch keine guten Vorzeichen für den am Nachmittag geplanten Windsurfkurs. Aber Oli Lütten, Surf-Lehrer und Besitzer der Surfschule, reagiert flexibel: Aus dem Windsurfkurs wird prompt ein Wellenreitkurs. Typisch brasilianisch.
Nach zwei Stunden auf dem Wasser merke ich mal wieder: Ist man kein Pro und brechen die Wellen nicht perfekt, kann Surfen nicht nur ein Kampf gegen die Wassermassen, sondern auch zum Kampf gegen die eigene Frustrationsgrenze werden. Ich paddle hinaus und scheitere beim Versuch, eine ordentliche Welle zu erwischen. Immer und immer wieder. Die Kräfte lassen nach.
Am Ende schaffe ich es trotz Übermüdung und diffuser Wellen, stehend zum Strand zu reiten und klappe kraftlos zusammen. Alles zittert, das Aufstehen ist beinahe unmöglich. Aber das Glücksgefühl, das der letzte Ritt auf der Welle beschert hat, überwiegt.
Mit dem salzigen Ostseewind im Gesicht unterhalte ich mich erstmals in Ruhe mit Oli (Bild). Über Gott und die Welt, vor allem über Karrierewege:
1997, leicht unzufrieden mit seinem Job als Beamter in der städtischen Verwaltung, überlegte er sich „will ich das, was ich jetzt tue, auch in 40 Jahren noch machen?!“.
Also fragte er seine Kollegen, die schon mehrere Jahrzehnte auf dem Buckel hatten, ob sie mit Job und Leben zufrieden seien. Die Antwort lautete zu selten „ja“. Also fasste Oli einen weisen Entschluss: Er kündigte – und kaufte die Bude am Strand.
Während des Gesprächs bin ich kurz abgelenkt, denn mir fällt ein Phänomen auf, das ich bei vielen Norddeutschen zu erkennen glaube: Es dauert erst etwas, bis man im Gespräch miteinander warm wird. Man hat das Gefühl, als müsse man seinem Gegenüber die Unterhaltung etwas aus der Nase ziehen. Kein Wort zu viel. Ganz anders als im Rheinland oder Ruhrgebiet, wo ich aufgewachsen bin. Aber hat man einen gewissen Punkt überwunden und einmal Sympathie geweckt, fällt die scheinbar unterkühlte Fassade.
Und so finde ich in Oli einen hochinteressanten Gesprächspartner, der mir neben der lebendigen Geschichte seiner Surfschule auch viel über das Leben am Meer erzählt. Ich merke: Es lohnt sich immer, mal hinter die Kulissen zu schauen und dabei tolle Menschen kennenzulernen.
Als ich Oli auf weitere Vermarktungs- und Verdienstmöglichkeiten seiner Surfschule hinweise – ein PR- und Wirtschaftsstudium bringt solch’ unromantische Gedanken manchmal mit sich – entgegnet er genügsam-nasal: „Och nö, du. Das reicht mir alles so wie es ist.“ Und schaut auf’s Meer.
„Schließlich habe ich hier schon den schönsten Arbeitsplatz der Welt.“
War für dich auch neu, dass es in Deutschland Kalifornien und Brasilien gibt?
Kennst du noch andere Orte mit kuriosen Namen oder einer interessanten Entstehungsgeschichte?
Hinterlasse gerne einen Kommentar zum Post!
9 Comments
Hey Marvin, ich bin heute zum ersten Mal auf deinem Blog gelandet und spontan begeistert. Toller Ansatz, schöne Geschichten, gute Fotos und gute Texte. Viele Grüße Nicole
Hi Nicole,
danke für das Kompliment! Freut mich, wenn’s dir gefällt. 🙂
Wie hast du von meinem Blog erfahren?
Viele Grüße
Marvin
Hi,etwas weiter oben in Schleswig-Holstein,genauer in Angeln zwischen Mohrkirch und Satrup finden sich übrigens auch die ‚grünen‘ Ortsschilder Norwegen und Schweden….ein anderer kurioser Ort in Angeln heißt Grabbelwatt 😊
Hi Tahana,
ja, habe schon gehört, dass es da oben noch ein paar mehr kuriose Ortsnamen gibt. 🙂 Sogar auch Kamerun, oder?
Viele Grüße
Marvin
Hey Marvin!
Fett, da ist der Artikel ja endlich. Meine Freunde aus Kiel haben mich schon gefragt 🙂
Wird geteilt!
Gruß von Anna, Gruß von Bert
Hey Bert,
ist schon ne ganze Weile online, bekommt man aber als Facebook-Abstinenzler wohl nicht direkt mit…;)
Danke nochmal für den Tipp!
Marvin
Ich lese auch zum ersten mal deinen blog und habe neben diesem Artikel auch gleich den über Marburg gelesen, meine alte Heimatstadt! Super geschrieben und irgendwie total treffend.
Weitere kuriose Städtenamen findet man übrigens auch in Hessen, u.a. die Ortschaften Linsengericht und Hüttengesäß. Wie die wohl entstanden sind?!
Hallo Juliane,
großartig! 🙂 Ich glaube, über die Entstehungsgeschichte von kuriosen Städtenamen sollte ich demnächst noch mal extra eine Geschichte schreiben…:-D
Viele Grüße
Marvin
[…] sich die Geschichten gleichen: Genau wie Oli, der Surfschulbesitzer, den ich bei meiner Reise nach Kalifornien an der Ostsee kennengelernt habe, hat sich auch Sam gegen den klassischen Karriereweg entschieden. Burger statt […]